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Armon - etwa im Jahr 1750 irdische Zeitrechnung

Jitraz hatte seinen ersten Geburtstag gefeiert. Es war eine schöne Feier gewesen, und es freute ihn, dass auch viele Mädchen in seinem Alter teilgenommen hatten. Für die Erdbewohner ist klarzustellen, dass ein Jahr auf Armon rund zwanzig Erdenjahren entspricht. Jitraz war als Einjähriger also nicht mehr mit dem Lernen des aufrechten Ganges beschäftigt, er galt vielmehr bereits als ein sehr geschätzter Bewohner von Armon. Dies obwohl er ein eher verschlossener junger Mann war.

Die Armonier hatten etwa die gleiche Körpergrösse wie irdische Menschen. Sie sahen auch recht ähnlich aus, und sie pflegten, wie schon gesagt, einen aufrechten Gang. Die Gemeinschaft der Armonier zählte immer rund 3000 Personen. Da sie etwa sieben bis acht Armonjahre lebten, gab es pro Jahr immer etwa vierhundert Todesfälle und ungefähr gleich viele Geburten. Interessanterweise gab es keine Geburtenkontrolle, keine Verhütungsmittel, und bezüglich des Liebemachens waren die Armonier überhaupt keine Kostverächter, ganz im Gegenteil. Und trotzdem wurden immer nur so viele Frauen schwanger, wie gleichzeitig Armonier starben.

Todesfälle, Geburten und andere wichtige Vorkommnisse wurden im «Buch» festgehalten. Ein solches wurde etwa seit 35 (armonischen) Jahren geführt. Aufgrund des Buches wussten die Armonier, dass die Bevölkerungszahl ihrer Gemeinde nie mehr als 3015 Personen betragen hatte, aber auch noch nie weniger als 2940. Nachdem der unbekannte Lenker ihrer Population - die Armonier nannten ihn «xau», was so viel wie «Geist» bedeutet - zudem auch eingerichtet hatte, dass immer gleich viele Männer wie Frauen existierten, waren die Armonier ein sehr gläubiges Volk. Sie liebten xau für dessen Weisheit und vermieden es, Dinge zu tun, die xau vielleicht nicht mochte.


Schweiz/Erde - im Jahr 2004

Und plötzlich war die Party vorbei. Man wurde wieder nüchtern. Bischof Ebner (einflussreicher Financier), seines Zeichens lokaler Hohepriester der reinsten Form der Shareholder-Kurie, wurde entzaubert. Max war persönlich etwas betroffen, er hatte Ebner gemocht, weil er eines der Stuhlbeine der alten Schweizerischen Bankgesellschaft abgesägt hatte. Die «Swiss-Colonels»-Mentalität dieser Bank hatte Max nie vertragen können.

Nur die Erfindung des Perpetuum mobile hätte die Finanzmärkte in eine noch höhere Schwingung versetzen können. Nachdem das Internet-Fieber abgeklungen war, kam nichts mehr nach. Wie bei einem Kaminfeuer, wenn kein Holz mehr da ist, erlosch die nie auf soliden Beinen stehende Hochkonjunktur.

Nicht nur hatten sich alle Prophezeiungen der Schönwetter-Manager als unrichtig erwiesen, man fand nun auch noch heraus, dass die ganze Führungsebene von kleinen Sünder- und Gaunerchens (neben einigen echten wirklich Kriminellen) durchtränkt gewesen war, und von kleinen Möchtegernchens, welche Entscheidungen trafen, die ihren intellektuellen und strategischen Horizont, aber auch ihr erstaunlich bescheidenes Zahlenverständnis bei weitem überstiegen. Es wurden sofort Beruhigungsmassnahmen ergriffen wie eidesstattliche Erklärungen über Bilanzen. Die Revisionsfirmen, die in den Betrugsjahren kläglich versagt hatten, wiesen plötzlich auf die Wichtigkeit von «Corporate Governance» hin. Das Vertrauen war am Arsch, aber der Mensch vergisst glücklicherweise rasch, und so erholte sich die Börse immerhin ein wenig. Dies obwohl sogar die Friedensdividende im Eimer war. Verrückte griffen die USA an, was jene dazu zwang, ihr Militärbudget auf zu Bill-Clinton-Zeiten undenkbare Höhen zu steigern. Dass einzelne Aktionäre von Rüstungsfirmen davon profitierten, dass die Familie Bush dem militärisch-industriellen Komplex sehr nahe stand, und dass es Leute gegeben haben soll, die den Feind Sowjetunion schmerzlich vermissten, ist nun wirklich nicht bewiesen. Aber immerhin, endlich florierte das Geschäft mit der Angst wieder. Und die Finanzanalysten mussten sich wieder an Kriege als zu analysierende Begleiterscheinung gewöhnen.


Erde - im April des Jahres 2038

Die Teneriffa-Ferien waren immerhin körperlich entspannend, manchmal blitzte das einzigartige ihrer Beziehung auf, aber nur selten. Einige Wochen danach ergab sich dann zum ersten Mal eine Diskussion darüber, was wohl wäre, wenn es nie mehr käme, das Euphorische, das unglaublich Magnetische. «Wir haben immer gesagt, dass wir nicht ein normales und vernünftiges Paar werden wollen. Entweder stimmen die Gefühle ganz oder dann ist es unser nicht würdig.» «‹Unser nicht würdig› tönt aber verdammt grosskotzig, Peter.» «Ich weiss, Liebste, aber es ist die Realität. Wir wollten keine Kompromisse machen, wir haben die Kompromissler immer ausgelacht, die zu schwach waren, um den ‹Flow of Life› zu akzeptieren. Wir haben den Lauf der Dinge akzeptiert, als er uns Rückenwind brachte, und nun, nun sollen wir uns wie die anderen nach dem Wind drehen? Isabella, deine Nähe nicht mehr zu spüren, wenn du nicht mehr da bist, wird mir das Herz brechen. Deine Nähe nicht zu spüren, wenn du da bist, wird es aber fast explodieren lassen, das ist für mich noch viel schlimmer.»

Isabella wusste, dass er Recht hatte. Scheinbar hatte sich das Schicksal plötzlich gegen sie gewendet. Vielleicht würde es eines Tages wieder anders sein, aber jetzt, jetzt waren sie einfach auch zu verkrampft, zu oft mit den Gedanken beim anderen. Gedanken, die manchmal eine Tortur waren. Gedanken, die krampfhaft nach Lösungen suchten, statt wie früher Gedanken, die beruhigten, Sicherheit gaben oder euphorische Gefühle weckten. Peter hatte Recht. Einige Tage pokerten beide, keiner wollte derjenige sein, der den Gedanken einer Trennung - wenn auch nur einer temporären im Sinne einer Pause - zuerst aussprach. Sie wollten das noch Existierende, auch wenn ein bisschen Wehmut über das offenbar nicht mehr Existierende dabei war, noch ein bisschen geniessen. Alles aufzugeben schien noch schmerzhafter.

Wie alle Menschen, denen ein signifikanter Schmerz bevorsteht und die es vorher wissen (was mindestens unterbewusst im Regelfall alle Menschen tun, so glaubte Peter mindestens), verdrängte man, malte sich aus, wie es werden würde ohne den anderen, und doch spürte man, diese Strasse geht im Moment nur noch abwärts, der «point of no return» war längst überschritten.

Isabella war meistens schneller als Peter im Erfassen und Spüren von Situationen, von Handlungsbedarf. Ihr Instinkt war manchmal beängstigend klar. Doch Peter war immer der Schnellere im Umsetzen. Er hasste es, wenn nicht entschieden wurde, wenn Bedarf für Entscheidungen da war. Auch den Status quo zu lassen, wie er war, konnte eine Entscheidung sein. Aber es durfte nicht sein, dass sie den Status quo einfach beliessen, weil keiner sich darum kümmerte und niemand den Mut zur Entscheidung hatte. Der Status quo kann eine tolle Sache sein, dann wenn er bewusst und gewollt bewahrt wird. Peter war es also, der endlich die Pause vorschlug. Beide fühlten sich unendlich traurig, aber gleichzeitig auch unendlich erleichtert. Schwarze Wolken überschatteten ihre Tage, aber beide spürten auch ein Gefühl aufkommender Freiheit, auch der Freiheit, alles wieder neu zu entscheiden.

© by R.G. Fischer Verlag, Frankfurt

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